Kleine Philosophie des Schmerzes

Wir sind unterschiedlich schmerzempfindlich

Wir müssen noch einmal über Schmerzen intensiv nachdenken. Die allgemeine Einteilung in akute Schmerzen und chronische Schmerzen beschreibt nur oberflächlich unsere Wahrnehmung. Was soll denn der Sinn von Schmerzen sein? Wann ist der Körper gesund und wann ist er krank? Die Antwort wird uns schwer fallen, das zeigt auch die Geschichte. Im Laufe der Jahrhunderte ist immer wieder versucht worden, eine andere Definition dafür zu finden. Die Thesen waren immer recht unterschiedlich. Von der Auffassung, einen gesunden Körper könne man gar nicht krank machen, bis zu der Vorstellung, Krankheit sei eine Strafe Gottes, finden wir alle Interpretationen.

​​Homöostase gibt es auch nur für einen kurzen Moment

Eine Homöostase, also ein inneres Gleichgewicht gibt es nur theoretisch in einem statischen, analytischen Zustand (in der Sekunde der Laboruntersuchung). Es ist also extrem schwierig, für einen bestimmten Moment festzustellen, ob alles in Ordnung ist oder nicht. Erst wenn der Körper den inneren und äußeren Ausgleich nicht mehr schafft, werden wir es merken. Aber wann ist das? Und wann merken wir das? Und was bedeutet das? Das heißt, bei jeder Beurteilung gibt es eine enorme Unschärfe.

Was ist gesund, was krank

Unser Problem ist nun, den Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit zu erkennen, eben gerade diesen Übergang. Im Prinzip haben wir dafür zwei Möglichkeiten: entweder wir vergleichen es mit so genannten objektiven Daten aus externen analytischen Geräten oder wir verlassen uns auf unser inneres Gefühl, versuchen, auf die innere Stimme unseres Körpers zu hören und sie möglichst richtig zu interpretieren.

Sie merken es schon: Bei diesem dauernden Auf und Ab und den unbestimmten Verhältnissen auf der körperlichen als auch der psychischen Ebene, die offensichtlich dazu unterschiedlichen Einflüssen gehorchen, ist eine objektive Bewertungen ziemlich schwer. Wo ist die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit? Wer kann sie festlegen? Bislang können wir das lediglich subjektiv festlegen („Ich fühle mich nicht gut“, „Ich habe Schmerzen“) oder durch objektiven Befund nachweisen („Das ist eine Zuckerkrankheit“, „Das ist ein Knochenbruch“). Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass eine Krankheit schon begonnen hat, wir sie aber noch nicht irgendwie bemerken können?

Wir kennen die Periode bis Infektionskrankheiten ausbrechen. Wir nennen das Inkubationszeit. Wir haben gelernt zu verstehen, dass eine Ansteckung durch einen äußeren Kontakt zeitlich ziemlich genau angegeben werden kann (angesteckt durch Masern, Mückenstich bei Malaria). Wie schwer ist das tatsächlich ist, hat uns die Corona Krise gezeigt. Denn exakte Daten setzen eine ganze Menge vergleichende Untersuchungen voraus, die sich aber auch verändern können. Es sind also immer nur ungefähre Annahmen.

Wir sind also schon krank und es arbeitet in uns irgendetwas gegen diese Krankheit, obwohl wir mit dem Körper das noch nicht empfinden können. Das unbeliebteste Beispiel für dieses Phänomen begegnet uns bei den Krebserkrankungen. Der Beginn kann schon Jahrzehnte zurückliegen. Er kann aber auch, vor allen Dingen in der Jugend ziemlich überraschend und kurzzeitig zum Tode führen. Wieso haben wir hier kein Meldesystem?

Dafür kann ich keine eindeutige Antwort geben. Aber es ist doch wohl so, dass dieser Kampf um die gesundheitliche Mitte ein ewiger Kampf im Leben darstellt, genau das ist das Leben. Die “Feinde“ sind manchmal so gut getarnt oder so mächtig, dass wir dem nichts entgegensetzen können. Vielleicht kommt aber auch noch ein anderer Aspekt dazu. Gerade durch die Verbindung zwischen Körper und Geist kann es durchaus positiv und richtig sein, wenn das Gehirn und unser Bewusstsein nicht immer darüber informiert ist, was jetzt gerade im Körper sich abspielt. Wir müssten sonst wohl viel häufiger eine Zeit in Angst und Schrecken verbringen. Also eine gnädige Informationsverweigerung. Eltern werden ihre todkranken Kinder weiter mit Hoffnung erfüllen, ihnen Mut zusprechen und damit die noch übrig gebliebenen Kräfte mobilisieren, um möglicherweise doch noch einen Umschwung im Krankheitsverlauf zu erreichen. Würden sich Eltern anders verhalten, wären ihre Kinder schnell depressiv, die Widerstandskräfte würden schwinden und der Kampf wäre von vornherein schon verloren.

 

Das Leben gibt nie auf

Außerdem bin ich der Meinung, der Körper ist gar nicht darauf angelegt zu beurteilen ob er noch eine Chance hat oder nicht. Er muss einfach das Leben weiter verteidigen. Dauernd abzuwägen, ob es sich noch lohnt weiter zu kämpfen, kann in der Natur nicht als Plan vorgesehen sein, weil Leben an sich ein dauernder Kampf ist der immer gewonnen werden kann und auch irgendwann verloren wird. Das Verlieren ist aber nicht vorprogrammiert in jedem einzelnen Körper.

Analog ist auch das Programm für Schmerzen angelegt. Schmerz ist neutral, hat keine eigenen Interessen und folgt der Bestimmung des Lebens. Schmerz ist auch keine Strafe oder eine besondere Zuneigung Gottes, wie man es abstruserweise im Mittelalter geglaubt hat, sondern er hat eine lebenswichtige, lebensrettende Funktion.

Akuter Schmerz – Chronische Schmerz

Der akute Schmerz hat zwei Phasen

Beim plötzlichen, akuten Schmerz ist es jedermann klar: Es geht darum, möglichst rasch aus einer gefährlichen Situation herauszukommen (die Hand auf der heißen Herdplatte).

Bei einer Wunde oder einem Knochenbruch ist es auch klar. Für den Heilprozess muss das Gewebe ruhig gehalten werden. Jede Bewegung wird mit Schmerz beantwortet, allerdings hier sehr deutlich in Abhängigkeit vom Heilungsprozess. Mit der Heilung erhöht sich auch die Beweglichkeit der verletzten Region. Eine sehr vernünftige Regel, um das Optimum zu finden zwischen Verwundung und optimaler Fitness. Es geht also darum, ein möglichst perfektes Regulativ zu finden, um möglichst rasch die Verletzung auszukurieren und damit den alten, Idealzustand wiederherzustellen.

Chronische Schmerzen funktionieren völlig anders

Diese sind auch nicht dauern da, manchmal unterschwellig, manchmal sehr gegenwärtig. Aber immer gibt es Pausen und dann wieder Momente einer sehr starken intensiven akuten Einschränkung. Sie bedienen sich also offensichtlich einer völlig anderen Sprache. Sie können sehr leise sein und flüstern, wenn sie sich überhaupt bemerkbar machen, oder auch ein sehr helles und lautes Trompetenkonzert inszenieren, sodass der ganze Körper sich krampfhaft zusammenzieht. Warum das mal so und mal so ist, dafür gibt es keine vernünftige Erklärung.

Das ist natürlich völlig unbefriedigend. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam herausfinden, wie wir chronische Schmerzen sonst noch interpretieren können. Soweit wir bisher wissen oder besser annehmen, handelt es sich um eine Warnfunktion. Das soll heißen, irgendetwas ist nicht in Ordnung. Unsere normale Reaktion darauf ist, den Ort des Schmerzes für den Schmerz verantwortlich zu machen oder zumindest in der Gegend die Ursache zu vermuten. Da die meisten chronischen Schmerzen in der Nähe von Gelenken auftreten, hat die klassische Medizin sich darauf spezialisiert, in diesen Gelenken die Ursache zu suchen. Manualtherapeuten wissen, dass sich Gelenke nicht alleine bewegen können und vermuten daher in Muskeln und Sehnen oberhalb und unterhalb des Gelenkes das Übel, was sich nach außen sichtbar meistens in einer Verspannung äußert.

Schmerzen

Sind Schmerzen wie ein Eisberg?

Schon bei einer geringen Abweichung der Spannung in unseren Gliedern bemerken wir ein Kribbeln oder einen gewissen Grad von Taubheit. Das schwankt dann so hin und her, kümmert uns aber nicht sonderlich. Aber könnte das nicht der Anfang eines Ereignisses sein, womit der Körper uns klarmachen will, hier ist jetzt etwas nicht in Ordnung? Ob es nur kurz vorhanden ist oder länger dauert, ist im Moment nicht zu sagen. Insofern reicht diese sanfte Aufmerksamkeit aus. Bleiben der Zustand oder die Irritation bestehen, kommt diese „Ermahnung“ vielleicht ein wenig heftiger, aber wir nehmen Sie einfach nicht bewusst wahr oder wollen Sie nicht wahrnehmen. Schließlich wird die Schwelle zum störenden Schmerz überschritten. Wir fangen an, die Schmerzen zu registrieren. Erst in diesem Moment veranlassen sie uns endlich, der Frage nachzugehen “Was ist da eigentlich nicht in Ordnung?“

Wenn wir jetzt ein Bild dieses Schmerzes anfertigen sollten, passt für mich am besten dasjenige eines Eisberges. Nur 10-20 % dieses Kolosses sehen wir über Wasser (und registrieren damit auch, dass wir Schmerzen haben) die restlichen 80-90 % sind irgendwo in nicht sichtbaren Tiefen. Sollte das wirklich so sein, hätte das entscheidende Konsequenzen für die Therapie. Dann wäre es sinnlos, nur das oberflächig sichtbare Eis abzutragen. Eine Herkulesaufgabe käme auf uns zu. Wir müssten den gesamten Eisblock zum Schmelzen bringen. Daraus ergäbe sich die Konsequenz, schon sehr früh zu versuchen, die Eisbildung zu registrieren und den Berg gar nicht anwachsen zu lassen. Oder besser noch, man hält die Temperatur des Wassers immer so hoch, dass sich niemals Eis bilden kann. Die Jahre, die uns eigentlich in der besten Zeit des Lebens einschränken, unbeweglich und unleidig vor Schmerzen machen, würden bald in der Erinnerung verblassen, einfach nicht mehr existieren. Und Geld würden wir zudem noch sparen.

 

Empfindliche Personen – Fibromyalgie 

Wenn wir uns Schmerzen wirklich so vorstellen wie die Entstehung und das Wachsen eines Eisberges, könnten wir mit diesem Bild auch erklären, warum es so viele Menschen gibt, die jeweils eine lange Odyssee durch die unterschiedlichsten Arztpraxen hinter sich haben. Ihre immer wieder angegebenen und beklagten Beschwerden entsprechen keiner Veränderung im Körper. Man kann nichts Abnormales feststellen. Sämtliche Apparate versagen, geben keine Auskunft, auch die modernsten und teuersten. Blutuntersuchungen und sonstigen Laborwerte geben keinen eindeutigen Hinweis auf irgendeine spezielle Erkrankung. Eine Situation, die sowohl für Patienten als auch für Ärzte frustrierend ist. Bis auf wenige Spezialisten, die mit ziemlich eigenartigen Vorstellungen (bis zu Operationen) versprechen, diese zum Teil unerträglichen Schmerzen auszuschalten, sind erfolgsverwöhnte Ärzte nicht besonders begeistert von den immer wiederkehrenden, durchwegs aber doch vorwurfsvollen oder resignierten Gesichtern der Betroffenen. Der verzweifelte Versuch, einen zu finden, der diesen unglücklichen Menschen helfen kann, führt sie dann in die Arme von Neurologen und Psychiatern. Aber auch von da kommt keine fundamentale Hilfe.

 

 

Am deutlichsten wird es bei der Personengruppe, die wir unter der Diagnose Fibromyalgie (Weichteilrheuma) einordnen. Immerhin sollen zwei bis drei Prozent der Bevölkerung betroffen sein. 80% sind Frauen. Sie sind eben im Durchschnitt sensibler als Männer. Falls Sie noch nichts von dieser Erkrankung gehört haben sollten, werden Sie sich wundern. Diese Diagnose ist eine komplette Ohnmachtserklärung der Medizin. Hier die Beschreibung der “Krankheit“:

Wenn bei der körperlichen Untersuchung von 18 über den Körper verteilten, definierten Tender Points (Schmerzdruckpunkten) 11 davon schmerzhaft sind und diese Punkte sich an drei verschiedenen Regionen des Körpers befinden, dann nennt man das eine Fibromyalgie.

Sie haben richtig gelesen, wenn Sie den Tatbestand nicht sofort ganz verstanden haben. Eine Beschreibung, die irrsinnig ist? Ein anderer Ausdruck ist Tendomyopathie, der darauf verweist, welch wichtige Bedeutung den Sehnen zugemessen wird. Eine ernsthafte, wirkungsvolle Behandlung gibt es nicht. Meist gehen Schlafstörung, Müdigkeit und Depression mit dieser Krankheit einher.

Natürlich ist mir klar, dass eine Krankheit, die so viele Menschen betrifft auch in einem Katalog und in Statistiken aufgenommen werden muss, der den Richtlinien des Systems, der Kassenvergütung und den Versorgungsleistungen gerecht wird. Aber mit eigentlicher Medizin und Heilung hat das nun wirklich nichts zu tun. Es demonstriert offensichtlich nur eine Ohnmacht.

Sind Fibromyalgie Patienten eigentlich völlig normal, lediglich überempfindlich?

Im Gegensatz zu anderen, robusteren Sterblichen merken Fibromyalgiepatienten offensichtlich sehr viel früher in ihrem Leben, wenn ihre Faszien unter Spannung geraten. Die kleinsten Stresssituationen können das auslösen. Diese leichte Verkrampfung ist von außen gar nicht zu erkennen. Man spürt keine Veränderungen in der Muskulatur und so kommt man überhaupt nicht auf die Idee, dass hier der Beginn einer Haltungsänderung vorliegt. Das sensible Gehirn, beziehungsweise die weise “Ratsversammlung“, reagiert sehr früh und aufgeregt, weil sie intuitiv verspürt, dass diese erst im Ansatz merkbare Spannung eigentlich schon eine Überspannung ist und zu einer allgemeinen Beeinträchtigung führen wird. Jedem, der von dieser Dramatik überhaupt noch nichts spüren kann, ist dieses Verhalten unverständlich. Das Ungewöhnliche und Seltene wird nicht verstanden. Entsprechend können auch keine Gegenmaßnahmen getroffen werden. Dabei wäre es gerade in diesem Fall sehr einfach. Man müsste nur wissen wo man ansetzen muss, wo der Schlüssel zu dieser Faszienverspannung liegt. Und genau der ist uns jetzt in die Hand gegeben. Und das wirklich Geniale daran: Es ist eigentlich ganz einfach. Der erste Schritt ist, frühzeitig diese Überempfindlichkeit zu erkennen.

Eigentlich müsste genau in diesem Moment das Warnsystem reagieren. So würde es wenigstens jeder Techniker einrichten.

Was wir nicht wissen ist, ob wir tatsächlich darüber informiert werden. Finden wir keinen Hinweis, keine Warnung? Unser Warnsystem heißt Schmerz. Sollten wir allerding verlangen, dass jetzt schon die Alarmglocken zu läuten anfangen, wären wir gar nicht belastungsfähig und hätten die ungeheuren Strapazen nicht überstehen können, die uns Fortschritt und Wohlleben beschert haben. Und so finden wir auch hier wieder unsere Gauß´sche Verteilungskurve der individuellen Empfindlichkeit. An den Enden jeweils die kleineren Abschnitte mit den Kategorien “Mimosen“ und “Holzklötze“, in der Mitte die übliche Dreiviertelmehrheit der “Normalen“.